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Kriegsende und Nachkriegszeit in Adorf - Erinnerungen von Inge Steinel

Die Zeitzeugenaussagen über die Stadt Adorf 1945 haben auch bei mir viele Erinnerungen wachgerufen. Dabei gab es identisches mit den Berichten anderer Zeitzeugen und manches aus einem anderen Blickwinkel (Adorf Siedlung Nord- und Forststraße, Freiberger Berg) und auch neues. Das von mir erlebte könnte als Ergänzung dienen, deshalb habe ich es aufgeschrieben.

Ich kehrte Ende April 1945 von Berlin (Einsatz: Arbeits- und Kriegshilfsdienst und „Deutsches Roten Kreuz“) nach Adorf, meine Heimatstadt zurück. Meine Eltern waren darüber erfreut, war doch unsere Familie heil aus dem unsäglichen Krieg zurückgekehrt (was ja in dieser Zeit nicht  häufig der Fall war). Wir wohnten in der Siedlung, Nordstraße 8. Meine Schwester Anneliese war in der Lazarett-Stadt Bad Elster tätig und so auch in Sicherheit.

Der Tag meiner Rückkehr nach Adorf war der 27.04.1945. Es gab viele widersprüchliche Meldungen über das Kriegsgeschehen in meiner Heimatstadt.
Adorf war zu diesem Zeitpunkt noch als einzige vogtländische Stadt in den Händen der deutschen Wehrmacht. Stationiert war im Rathaus Adorf eine kleiner Trupp deutscher Soldaten, kommandiert von einem Offizier namens Feierabend.
In der Gartenanlage „Volksgesundheit“ am Freiberger Berg hatte eine kleine Gruppe von Hitlerjugendlichen Unterschlupf gefunden. Offensichtlich operierten sie unabhängig vom Militär und führten Attacken gegen die amerikanischen Einheiten in eigener Regie durch.
Die amerikanischen Truppen rückten jeweils von Bergen in Richtung Freiberg vor und beschossen vorrangig in den Nachtstunden die Stadt Adorf, später die Siedlung (Nord- und Forststraße) sowie die Privatvilla Claviez und die Teppichfabrik in der Oelsnitzer Straße. Am Freitag, den 29.04.1945 setzten sie die Scheunen in der Freiberger Straße in Brand. Adorfer Bürger, u.a. zwei Kinder in der Markneukirchner Straße kamen durch amerikanische Tieffliegerangriffe  ums Leben.

Als besonders erschütterndes Ereignis ist mir im Gedächtnis, dass zwei junge deutsche Soldaten, die individuell mit dem Krieg Schluss machen wollten, in der Nähe der Adorfer Turnhalle aufgehängt gefunden wurden. Sie hatten jeweils ein Schild um den Hals darauf stand „Ich war ein Verräter“. Dieses löste bei der Bevölkerung große Betroffenheit aus. Die Täter wurden nicht identifiziert.
In den folgenden Tagen, bis zum 8. Mai 1945 gab es Bombenangriffe auf Wohnhäuser am Markt Adorf, auf die beiden großen Fabriken Gebrüder Uebel und Teppichwerk Claviez, die für viele Adorfer Bürger Arbeitsplatz waren.

Uns wurde bekannt, dass in diesen Tagen zwei mutige Bürger, so der evangelische Pfarrer von Adorf und Herr Bamler, ein Bauer aus Freiberg, unabhängig voneinander versuchten, die Amis zum Einmarsch in Adorf zu bewegen, damit die Bombardierung des Ortes ein Ende findet. Nach unserer Information kam der Pfarrer unversehrt von seiner Mission zurück, nicht so Herr Bamler. Er wurde mit weißer Fahne auf der Straße nach Weidigt erschossen aufgefunden. Aus welcher Richtung die Schüsse abgegeben wurden (von den amerikanischen Soldaten oder den Hitlerjungen) blieb ungeklärt.

Am Freitag, den 6.Mai 1945  kam es zu einem besonderen Ereignis. Bürger von Adorf wurden aufgerufen, um 12.00 Uhr auf dem Marktplatz zu erscheinen. Mein Vater erklärte meiner Mutter und mir, dass er allein gehen wird. Wer zu dieser Aktion aufgerufen hatte, blieb unklar. Nach Rückkehr berichtete der Vater, dass zahlreiche Adorfer Bürger auf dem Marktplatz versammelt waren. Dort sei lautstark die Forderung nach Abzug der deutschen Soldaten erhoben worden. Der Kommandant Herr Feierabend trat auf das Rathausportal und versuchte die Anwesenheit der Soldaten zu verteidigen. Da er sich nicht unterbrechen ließ erhielt er von einer anwesenden Bürgerin eine Ohrfeige (meinem Vater war die Frau unbekannt, deshalb muss sie keine Adorfer Bürgerin gewesen sein). Die Wirkung sei sehr erstaunlich gewesen. Feierabend kehrte ins Rathaus zurück und rückte kurze Zeit später mit seinem Trupp Soldaten ab. Obwohl damit Adorf vom deutschen Militär frei war, rückten die Amerikaner nicht ein. Zwei Tage nach dem Scheunenbrand am 01.05.1945, erfolgte der erste Granateneinschlag in unsere Siedlung. Getroffen wird unser Nachbarhaus in der Nordstr. 10 (30 m von unserem Haus entfernt). Tödlich getroffen wurde Hausbesitzer Herr Vogel, und drei weitere Bewohner wurden schwer verletzt und verstarben auf dem Weg ins Krankenhaus nach Markneukirchen.
Unser Großvater zog sich im Schutzkeller, wohin wir geflüchtet waren, eine schwere Erkältung zu, an der er am 08.05.1945 verstarb, da es keine medizinische Hilfe gab.

Der 8. Mai 1945 – der Tag des Friedens endet in Adorf noch immer blutig. Für die Amerikaner kam es bei ihrem Vormarsch auf Adorf noch zu einem kurzen Gefecht mit den in der Gartenanlage auf dem Freiberger Berg verschanzten Hitlerjungen. Dabei wurde noch ein Soldat von ihnen getötet. Daraufhin durchkämmten sie in der Siedlung Forst- und Nordstraße Haus für Haus nach versteckten Waffen und Soldaten.
In unserem Haus verlief alles ruhig. Mein Vater ließ die Amerikaner ins Haus, öffnete ihnen die Tür und führte sie in das Sterbezimmer unseres Großvaters. Sie nahmen ihren Helm ab, sprachen ein Gebet und verließen unser Haus. In den anderen Häusern ging es nicht so glimpflich ab. Z. B. im vierten Haus in der Nordstraße, bewohnt von der Familie Sonntag, wurde der Hausherr vor seiner Tür erschossen (Er versuchte zu erklären, dass er kein Wehrmachtsangehöriger war, sondern bei einem Bautrupp der „Organisation Todt“. Die Verständigung war zu schwierig.). Herrn Walz, Hummelberg, wurde in die Hand geschossen, an mehreren Orten gingen Fensterscheiben zu Bruch und ähnliche kleinere Vorkommnisse. Bis zum Mittag am 8. Mai war die Siedlung vollgestopft mit Militärfahrzeugen, die erst am späten Abend wieder abzogen. Das war die erste Nacht, in der es eine Ausgangssperre gab. Dies sollte noch lange anhalten. Die amerikanische Besatzung vollzog keine gesellschaftliche Veränderung. Offensichtlich deshalb, weil sie aus dem Vogtland wieder abziehen wollten.
In den größeren Einfamilienhäusern am Kreuzacker, in der Siedlung, nahmen die Amerikaner dann Quartier. Diese Häuser mussten von den Besitzern zeitweilig verlassen werden. Bald entwickelte sich in diesen Quartieren ein „fröhliches Jugendleben“. Viele „Damen“ der Stadt kamen gern und freiwillig, gab es doch reichlich Getränke, zu rauchen und kleine Geschenke.

Als die amerikanische Besatzungsmacht abgezogen war, kamen die russischen Truppen, und für uns begann die schwierige Nachkriegsetappe mit zahllosen Flüchtlingen, zerstörten Fabriken und Häusern und vor allem verunsicherten Bürgern.
Der sowjetische Kommandant residierte im ehemaligen Amtsgericht auf dem Adorfer Marktplatz. Der kleine Trupp sowjetischer Soldaten zog zunächst in die Mädchenschule, aber später in die Teppichfabrik, Oelsnitzer Straße.
Ich war damals 19 Jahre alt und beteiligte mich mit anderen Jugendlichen (10 Jungen und Mädchen etwa gleichen Alters) im antifaschistischen Jugendausschuss in der Stadt Adorf. Wir hatten uns das Ziel gesetzt, uns mit antifaschistischer Literatur zu beschäftigen und die Adorfer Jugendlichen für die Schaffung neuer demokratischer Verhältnisse zu interessieren. Unser Aktionsradius war zunächst nicht sehr groß, aber wir waren an einem neuen Leben interessiert.
Eines Tages im Juni 1945 erhielten wir eine Einladung vom sowjetischen Stadtkommandanten zum Gespräch. Er erkundigte sich bei diesem nach unserem Vorhaben, um die Jugendlichen für die neue Zeit zu gewinnen. Unsere Ideen, dass wir erst selbst antifaschistische Literatur studieren wollten, um später Jugendliche zu überzeugen, schien ihm nicht sehr brauchbar. Nach seiner Meinung wollten die Jugendlichen nach der langen und schweren Kriegszeit mit all ihren Entbehrungen nun endlich wieder froh sein, tanzen, singen, Sport treiben u.ä.. Er empfahl uns, doch über ein anderes Konzept nachzudenken. So z.B. den Aufbau einer Tanzkapelle, die Schaffung einer Fußballmannschaft, regelmäßigem Turn- und Sportbetrieb und ähnliches.

Für seine Anregungen zeigten wir Verständnis. Nicht so gut gefiel uns seine Forderung, auch die Hitlerjugendführer mit einzubeziehen. Er meinte, auch für sie sei eine Welt zusammen gebrochen, sie sollten nicht abseits stehen und eigentlich seien sie nicht die Schuldigen. Dafür hatten wir nun wenig Sinn und widersprachen. Viele Jugendliche waren von den Hitlerjugendführern nicht glimpflich behandelt worden, wenn sie dem unliebsamen Dienst fern blieben (Haare abrasieren u.ä.).
Den Hauptteil seiner Anregungen griffen wir auf und wie es uns schien, kam er bei den Adorfer Jugendlichen gut an. Zustimmung, Unterstützung und gute Initiativen sprechen davon.
Bei der Lösung des sehr schwierigen Problems – Konfrontation zwischen den antifaschistischen Jugendlichen und den Hitlerjugendführern – kam uns die materielle Not der Adorfer Einwohner und noch mehr die zahlreichen Flüchtlinge, denen es am Nötigsten fehlte, zu Hilfe. Es kamen alte Menschen, Frauen mit Kindern und es fehlte an einer warmen Stube, an Kleidung, an Essen und Trinken, an fast allem.
Der Jugendausschuss erhielt viele konkrete Aufgaben. Sie reichten vom Bahnhofsdienst bis zum Holz fällen im Wald. Jede Hand wird gebraucht. Mancher ehemalige Hitlerjugendführer begreift dabei auch, wie falsch und verbrecherisch die Politik im Dritten Reich, also den Faschisten, tatsächlich war. Die materielle Not brachte uns zu manchen Erkenntnissen.

Genauso war es bei der Vorbereitung auf das erste Nachkriegsweihnachtsfest. Wir appellierten an die Adorfer Bevölkerung, unsere Sammlung nach altem Spielzeug, Kleidung, zu unterstützen. Wir wollten alles reparieren, auffrischen und neu herrichten, um die Flüchtlingskinder zu erfreuen und Not zu lindern. Unsere zahlreich gesammelten Schätze durften wir in der Gaststätte „Wolfsschlucht“ auf dem Adorfer Markt lagern, sortieren und erneuern. Dieser Familie gebührt noch heute unser Dank. Neben der zeitweisen Unordnung, Unkosten, verursachten wir auch nicht wenig Lärm. Wir haben nicht nur fleißig gezimmert, gehackt und Dreck gemacht, natürlich wurde auch gesungen, getanzt u.a. (vor allem bei Stromabschaltungen, die es häufig gab). Unter Anleitung von Ilse Joram probten wir Weihnachtsmärchen, lernten Weihnachtslieder und Gedichte, um eine schöne Feier zu gestalten. Nicht selten gingen wir in die umliegenden Dörfer um Äpfel, Mehl, Nüsse u.a. Zutaten für die Weihnachtsbäckerei zu erbetteln. Adorfer Bäcker zauberten daraus Pfefferkuchen, stollenähnliches Gebäck u.a. Wir halfen beim backen, schmückten den Saal des Schützenhauses, spielten den Weihnachtsmann usw.. Die Aktion war ein großer Erfolg, wir haben Freude bereitet und waren darüber glücklich. Alle Beteiligten kamen sich bei der Arbeit näher.

Frau Steinel (87 Jahre) war später Mitglied des Sächsischen Landtages bis zu dessen Auflösung im Jahr 1952 und wohnt heute (2013) in der Nähe von Berlin.

Anm.: Der Einmarsch der amerikanischen Truppen erfolgte nachweislich am 6. Mai 1945.