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Die letzte Fahrt (1975)

von Bernhard Aechtner (1901-1983), Die Straße meines Lebens - Erinnerungen (freundlich zur Verfügung gestellt von Dr. Gerhard Aechtner)

Wenn man der Chronik glauben darf, fuhren 66 Jahre lang die Züge von Adorf  nach Markneukirchen und Erlbach  und wieder zurück. Es waren vorwiegend Arbeiterzüge, die immer gut besetzt waren. Die Züge fuhren in Markneukirchen mitten durch die Stadt und behinderten den Straßenverkehr. Die einstigen Dampfloks läuteten durch die Stadt, und die späteren Dieselloks heulten zum Ärger der an der Strecke anliegenden Bürger.

Heute läutet und heult keine Lok mehr, und kein Zug behindert mehr den Straßenverkehr. Am 31. Mai 1975 um 22 Uhr fuhr der "Schwarzbachdampfer", später "Ostexpreß", wie der Zug scherzhaft genannt wurde, zum letzten  Mal. In Adorf war der Zug schon voll besetzt, als er abfuhr. Die Diesellok war mit einem Birkenstrauß geschmückt, und der Zug war um zwei Wagen verstärkt. Auf dem Haltepunkt in Markneukirchen standen die Leute dicht gedrängt, ein großer Teil stieg zu, und auf dem Stadtbahnhof, der ja der Hauptbahnhof war, standen die Leute so groß wie der Bahnsteig war, dicht beieinander und haben sich noch in den voll besetzten Zug hinein gezwängt. Die Fahrt ging weiter nach Erlbach. Hier mußte die Lok umgesetzt werden, damit der Zug wieder zurückfahren konnte. Auf der Rückfahrt in der Nähe der Gaststätte "Tempel" gab es einen Ruck. Ein Fahrgast zog die Notbremse. Nach einer Weile ging es weiter. In Markneukirchen ist der größte Teil der Markneukirchner ausgestiegen. An den Übergängen standen die Leute mit Laternen und Lampions und winkten dem letzten Zug den Abschied nach. Das letzte Geheul der Lok ärgerte die Leute jetzt nicht mehr. Es klang wie ein verzweifelter Schrei. Am letzten Wagen leuchtete ein Schild auf: "Letzte Fahrt..."

Dieser Zug, der mehrmals von Adorf nach Erlbach fuhr, war für die Markneukirchner zu einem Stück Heimat geworden, ohne dass es ihnen so recht bewusst war. Die Leute fragten sich: Wie soll es nun weitergehen? Wie sollen die Lebensmittel und die anderen Waren befördert werden? Die Kinderwagen mit Bussen zu befördern, ist kaum möglich. Wieder andere sagten: "Dadurch bleibt die Welt nicht stehen. Der Zug war nicht der erste und wird auch nicht der letzte sein, der der heutigen Zeit und der Rentabilität zum Opfer gefallen ist. Wie alles das, was unsere Industrie und wir selbst zum Leben gebrauchen, herangebracht wird, darüber müssen sich andere den Kopf zerbrechen. Die müssen wissen, was besser, schneller und billiger ist."

Bernhard Aechtner wuchs am Remtengrüner Weg auf und wohnte später in Jugelsburg.