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Johanna Jawinsky: Dreimal besetzt - Erinnerungen an das Jahr 1945 in Adorf

Johanna Jawinsky, geb. Jacob, eine ehemalige Adorferin, hat zu Kriegsende 1945 als Kind ein Tagebuch geführt. Daraus und aus Erinnerungen entstand im Jahr 1993 der nachfolgende Bericht. Ihre Familie wohnte am Markt („Kaffee Jacob“). Heute lebt Frau Jawinsky in der Nähe von Rostock.

1945 war ich 14 Jahre alt. Unser Vater – wir waren drei Kinder – war 1939 eingezogen worden und war den ganzen Krieg Soldat. Oft hörten wir wochenlang nichts von ihm und bangten um sein Leben. Die Frauen der Familie, meine Mutter, die Oma und eine Tante hielten mit einer Kellnerin unsere Gaststätte, so gut es ging, aufrecht. Wir Kinder mußten auch mithelfen, indem wir Geschirr abwuschen, abtrockneten oder Lebensmittelmarken aufklebten, denn für das Behelfsgebäck, das Oma buk mußten ein paar Fett- und Zuckermarken abgegeben werden.
Dann kam für uns die schlimme Zeit als der Krieg nach Deutschland zurückkam. Bei seinem letzten Urlaub von der Ostfront hatte uns unser Vater schon damit geschockt, daß er sagte, wir sollten uns beim JM (Jungmädchenbund) etwas zurückhalten. Die Russen, die er kennengelernt habe, wohnten zwar unter sehr einfachen Verhältnissen und meist nur in Holzhäusern, damit seien sie aber zufrieden und wir sollten ihnen nicht unser Leben aufdrängen. Wir machten große Augen, weil wir immer gedacht hatten, er würde ganz anders denken. Über das Gespräch hielten wir Stillschweigen.

Als dann des öfteren Fliegeralarm gegeben wurde, hatten wir Kinder das gar nicht so ungern, weil der Unterricht oft über mehrere Stunden ausfiel. Dann aber begannen die Bombardierungen der Stadt Plauen. Wenn Fliegeralarm gegeben wurde, rannten wir in den Keller, wo wir ständig einige Koffer mit den wichtigsten Sachen aufbewahrt hatten. Sobald sich das Brummen der Flugzeugmotoren verzog, verließen wir den Keller. Auf dem Markt beobachteten wir dann, wie die Flugzeuge in großer Höhe „Christbäume“ (das waren Bündel von Leuchtkugeln zur Markierung der Bombenabwurfstellen) setzten und dann hörten wir die Detonationen in Plauen. Noch heute habe ich ein sonderbares Gefühl in der Magengegend, wenn ich ein Motorflugzeug brummen höre. Einmal war meine Tante Käte während eines Bombardements in Plauen. Wie ohne Besinnung war sie durch brenndende und einstürzende Häuserzeilen gerannt und zu Fuß, wobei sie sonst nicht einmal bis Bad Elster ging, nach Adorf gelaufen. Sie wußte später nicht mehr, wie sie das geschafft hatte. 

Dann näherten sich die amerikanischen Truppen unserer Stadt. Zu dieser Zeit wurde unsere Gaststätte zum ersten Mal „besetzt“. Es war zu der Zeit, als die Amerikaner und die Russen, wie wir sagten, sich bei Torgau an der Elbe trafen. In unserer Gaststätte wurden etwa 15 junge deutsche Soldaten untergebracht. Behelfsmäßig schliefen sie auf Heu oder Stroh. Wir Kinder waren natürlich neugierig und hielten uns ab und zu bei ihnen auf. 

Inzwischen hatte die Wehrmacht kein Benzin mehr und so konnten weder Panzer noch Flugzeuge eingesetzt werden. Also gab es eine Bekanntmachung, daß jeder Einwohner, der im Besitz eines Fahrrades sei, dieses auf der Polizeiwache gegen eine Bescheinigung abzugeben hätte. Wir besaßen nur kleinere Mädchenräder und fühlten uns nicht angesprochen. Ich traute mich dennoch nicht mehr damit auf die Straße. Meine Schwester, die das aber wohl vergessen hatte, fuhr ausgerechnet mit meinem Fahrrad auf den Markt. Da kam der Wachtmeister aus der Polizeistation, sie war im Rathaus rechts unten untergebracht, und beschlagnahmte das Fahrrad. Uns blieb ein Zettel mit Stempel.

Die jungen Soldaten mußten nun mit Fahrrädern und Panzerfäusten losziehen. Fahrräder gegen Panzer!!! Ob sie wollten oder nicht, immer wieder ging es los zum „Spähtrupp“. An einem Tag kamen drei nicht mehr zurück. Sie waren gefallen. Als ich mich wieder in der Nähe der Soldaten aufhielt, bekam ich mit, daß sich einer mit einer Pistole ins Bein schießen wollte, damit er nicht mehr hinaus mußte. Ein anderer versuchte ihm das aber auszureden, weil er vor das Kriegsgericht kommen und erschossen werden könne. Wie das ausging, weiß ich nicht, denn ich bekam Angst und verzog mich. Der Soldat hatte aber allen Grund sich vor Verurteilung zu fürchten. Wir erfuhren, daß einige junge Soldaten sich gesagt hatten, Amerikaner und Russen haben sich schon vereint, der Krieg ist verloren. Weil sie in der Nähe wohnten, wollten sie einfach nach Hause gehen. Sie wurden aber aufgegriffen und sechs sollen in Remtengrün hinter einer Scheune erschossen worden sein.

Von Tag zu Tag kam der Krieg näher. Adorf war zur „Festung“ erklärt worden und wurde mit Artillerie beschossen. Die amerikanischen Flugzeuge stießen auf keine ernst zu nehmende Abwehr mehr und flogen am lichten hellen Tag über das Rathaus. An einem Morgen, ich lag noch im Bett im Schlafzimmer in der oberen Etage, da knallte es fürchterlich. Ich dachte, es wären Bomben und rannte fast ohne Besinnung halbnackt in den Keller. Als ich mich etwas beruhigt hatte und in die Wohnung ging, sagte ein Soldat zu mir, es wäre nur Flieger-MG-Feuer gewesen, und, wenn sie im Krieg immer so schöne dicke Mauern wie in unserem Haus gehabt hätten, brauchten sie keine Angst gehabt zu haben.

Wegen des sich verstärkenden Artilleriebeschusses hielten wir uns nachts nur noch im Keller auf. In einer Bettstelle, die wir dort aufgestellt hatten, preßten wir Kinder uns bei Beschuß zitternd aneinander. In einer Nacht hörten wir nach einer Detonation fürchterliche Schreie eines jungen Soldaten um Hilfe. Wegen des Beschusses traute sich aber wohl niemand zu ihm. Später erfuhren wir, daß er vor dem Amtsgericht (später Poliklinik) Wache gehabt hatte. An dem Bauchschuß soll er verstorben sein. Die bei uns einquartierten Soldaten verließen unsere  Gaststätte. Wohin war uns unbekannt. 

Dann wurde das für uns unheimliche brummende Geräusch der Panzer immer lauter und verstummte wieder. Plötzlich aber standen dann aber doch amerikanische Panzer auf dem Markt. Die Meyer Liesbeth, Tochter vom Ficker Fleischer, ging mit einer weißen Fahne auf einen der Panzer zu. Uns bewegten sehr gemischte Gefühle. Einerseits bedeutete die Ankunft der Amerikaner wohl, daß der Krieg für uns vorbei war, andererseits hatten wir Angst, was aus uns werden sollte. Und zu den „Feinden“ zu gehen, war uns wohl auch nicht ganz geheuer. Ganz ungefährlich war die Situation auch nicht, denn die amerikanischen Soldaten feierten ihren Sieg mit Alkohol und fuchtelten mit ihren Pistolen auf gefährliche Weise herum. Sie durchsuchten auch die Häuser und nahmen die alkoholischen Getränke aus unserem Keller mit. Unsere Eltern hatten immer streng darauf geachtet, daß wir Kinder nie Alkohol zu trinken bekamen. Nun hatte Mutter aber noch eine Flasche Likör, und davon durften wir nun trinken „bevor es den Amerikanern in die Hände fällt“. Süßigkeiten waren schon lange sehr rar geworden. Der Likör schmeckte uns daher wunderbar süß. Auf diese Weise kamen wir Kinder zu unserem ersten Alkoholgenuß.

Ob es gleich am ersten Tag geschah, weiß ich nicht mehr. Aber wir bekamen wieder Einquartierung. Die „Amis“ schliefen nicht auf Stroh, sondern hatten graue, gut gesteppte Schlafsäcke. Eines Tages kam ein Offizier in unseren Hof, als meine Mutter gerade die Kaninchen fütterte. Ich hatte in der Schule vier Jahre Englischunterricht gehabt, und meine Mutter wollte mich als Dolmetscherin benutzen. Sie war sehr enttäuscht, als ich mit meinem Schulenglisch und dem amerikanischen Akzent nicht zurechtkam und so gut wie nichts verstand. Der Offizier verblüffte uns dann, weil er im schönsten wienerischen Akzent deutsch sprach. Er verriet uns dann auch, daß seine Großeltern aus Wien stammten. So allmählich verging die größte Angst, etwas unheimlich blieb uns die Anwesenheit fremder Truppen aber doch.

Meine Mutter war aber ziemlich couragiert. Eines Tages schnürten die 
Amis in unserer Gaststätte ihre Schlafsäcke zusammen und gaben zu erkennen, daß sie die Gaststätte verlassen. Da fragte meine Mutter den Offizier, ob sie nichts bezahlen wollten. Als er sehr verwundert fragte, wofür, erklärte meine Mutter: für den Aufeinthalt und vor allem für das Saubermachen. Die Soldaten hätten Nüsse auf dem Fußboden zertreten, und es würde viel Mühe machen, die Ölflecken wieder zu beseitigen. Immer noch reichlich verwundert, machte er wohl „gute Miene zum bösen Spiel“ und gab meiner Mutter zwei oder drei Tafeln Schokolade. Die waren für uns sehr viel mehr wert als Geld.

Wir hatten uns einigermaßen an die Amerikaner gewöhnt, da schockten sie uns mit der Nachricht, daß sie abziehen und die Russen kommen würden. Wir glaubten ihnen zuerst nicht. Doch dann rückten sie tatsächlich ab.

Wir hatten nun fürchterliche Angst vor den Russen. Die Angst war darin begründet, daß uns immer wieder gesagt worden war, die Russen seien Untermenschen. Uns gegenüber auf dem Markt hing an einer Haustür ein Plakat, auf dem ein Mann mit einem spitzen Helm und einem bluttriefenden Messer und gefletschten Zähnen abgebildet war. Darunter stand meiner Erinnerung nach: Das ist der Bolschewismus. Dann war im Radio von Vergewaltigungen die Rede und heimgekehrte verwundete deutsche Soldaten berichteten auch, meist unter vorgehaltener Hand, von Verbrechen an russischen und polnischen Menschen, weshalb man sich vor Vergeltung fürchten müsse.
Wir hatten hinter dem Hof noch ein Hinterhaus, das früher als Stall gedient hatte und in dem auch jetzt noch Heu von unserer Wiese lag. Dorthin wollte ich mich mit meiner Schwester verstecken. Jedenfalls zitterten wir förmlich, als die ersten sowjetischen Truppen nach Adorf kamen. 

Ein paar Tage ging ich überhaupt nicht auf die Straße. Aber es blieb ruhig. So steckte ich die Nase doch mal wieder hinaus. Ich ging bei Schuhmacher Krauß (= heute Löwenapotheke) um die Ecke. Dort hing quer über die ganze Straße, durch die seinerzeit Adolf Hitler von Hof kommend, einmal gefahren war, ein Transparent auf rotem Fahnentuch mit der Aufschrift: „Die Hitler kommen und gehen, der deutsche Staat und das deutsche Volk bleiben. J.W. Stalin“, was mich sehr erstaunte. Der sowjetische Kommandant zog in das Haus neben der Apotheke ein. Wir erfuhren, daß er einen LKW mit Anhänger nach Salzwedel schickte, um Gemüse für die hungernde Bevölkerung unserer Stadt heranzuschaffen. Das alles hatten wir nicht erwartet, sondern gedacht, ein Weiterleben unter den Russen sei nicht möglich. So faßten wir wieder etwas Mut.

Plötzlich kamen in unser Haus sowjetische Armeeangehörige und befahlen uns, sofort die ganze obere Etage, in der wir wohnten, zu verlassen, wobei die Möbel stehen bleiben müßten. Meine Mutter faßte aber wieder Mut und bat, daß wir doch zwei, drei Räume behalten möchten, damit wir das Geschäft weiter betreiben könnten. Das Wunder geschah, wir durften bleiben. Wir mußten lediglich vier, fünf Räume abgeben. In diese zog ein Offizier mit seiner Frau ein. Regelmäßig kamen auch eine Haushaltsgehilfin und ein Dolmetscher und Bursche. Unser Leben wurde dadurch kaum beeinträchtigt, wenn man davon absah, daß wir etwas eng wohnten und die Soldaten öfter mal auf die Treppe spuckten.

Dann aber kam unser Vater zurück. Er war in englischer Kriegsgefangenschaft gewesen. Da er zu den älteren Jahrgängen gehörte, wurde er ziemlich bald entlassen. Weil die Engländer aber nicht in die sowjetische Zone entließen, hatte er als Adresse eine bekannte Familie in der Nähe von Bad Selb angegeben. Es hatte ihn aber nach Hause gedrängt und so schloß er sich mit einer Gruppe von Männern einem Ortskundigen an, der sie für je 100 Mark über die Grenze im Dreiländereck Bayern, CSR, Sachsen schleuste. Nun war er mehr oder weniger illegal in Adorf. Der stellvertretende Kommandant in unserem Haus bekam das natürlich mit und er schickte seinen Burschen mit der Aufforderung an meinen Vater, zu der und der Zeit bei ihm zu erscheinen. Da bekamen wir es wieder fürchterlich mit der Angst zu tun. Unser Vater war an der Ostfront beim Bodenpersonal auf Flugplätzen eingesetzt gewesen und wir fürchteten, daß er wieder gefangengenommen und nach Rußland abtransportiert werden würde. Unsere Angst steigerte sich als Stunde um Stunde verging und unser Vater nicht wiederkam. Aber dann kam er doch. Er war hochrot im Gesicht. Mein Vater hat als Gastwirt selbstverständlich auch mal Schnaps getrunken, aber so betrunken hatte ich ihn noch nicht erlebt. Etliche schto Gramm hatten ihn geschafft. Der Offizier hatte mit diesem Mittel wohl wissen wollen, mit wem er unter einem Dach lebte. Uns aber fiel mehr als ein Stein vom Herzen, daß wir unseren Vater behalten konnten. Wir lebten dann so etwa nach dem Prinzip gegenseitiger Loyalität im Haus zusammen. Zu Gesprächen kam es nicht. Das lag auch daran, daß wir uns nicht ohne einen Dolmetscher verständigen könnten. Nach einiger Zeit stellte sich bei der Offiziersfamilie Nachwuchs ein und bald darauf kehrten sie in die Heimat zurück. Wir konnten unsere Wohnräume wieder beziehen. Damit war die dritte Besetzung beendet. 

Später haben wir viel Gutes und Schlechtes über die Sowjetunion gehört. Aber zu uns kam die Rote Armee nicht mehr als kämpfende Truppe, sondern als wohl geordnete Armee, deren Soldaten im Vergleich zu den Amerikanern ärmlich angezogen waren und die auch keine Schokolade und Zigaretten verschenkten, uns jedoch auch nicht bedrängten und uns eher halfen, wieder Fuß zu fassen. Es hing wohl doch Vieles von den jeweiligen Persönlichkeiten ab, mit denen wir es zu tun hatten.
Für uns begannen, abgesehen von den ersten Jahren, in denen wir jungen Leute eigentlich immer Hunger hatten, „normale Jahre“. Die Gaststätte wurde wieder geöffnet und unsere Oma fuhr fort, für die Gäste für wenig Lebensmittelkarten Kuchen zu backen, wofür wir ab und zu eine Art Melasse „frei‘“ bekamen. Nun war aber mein Vater wieder da, der von Beruf ein richtiger Konditor war. Der sah sich das eine Zeitlang mit an. Dann verbot er unserer Oma sehr zum Leidwesen der Gäste „solches Zeug“ herzustellen. „Entweder es wird nach richtigem Rezept gebacken oder gar nicht!“ So blieb es beim Oder. Verkauft wurde dünnes Bier und ab und zu Alkolat (was das ist, wissen nur noch die Älteren) und Sohler Sprudel. Ich arbeitete ab Dezember 1945 als Hilfsarbeiterin im chemischen Laboratorium Pinsker & Co. Die Mittelschule blieb zunächst geschlossen.

aufgeschrieben 2012