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Kriegsende in Adorf und Jugelsburg - Erinnerungen von Dr. Gerhard Aechtner

Dr. Gerhard Aechtner war damals 16 Jahre alt und lebte in Jugelsburg (Hintere Karlsgasse, heute das Haus von Familie Schaller) und wohnte bis zu seinem Tod im Oktober 2016 in Halle. Der Bericht beginnt im April 1945.

Die Woche verging, das Leben verlief einigermaßen normal. Es war sonniges Wetter. Von Westen her hörte man aus der Ferne Geschützdonner. Am Hang über unserem Haus ging eine Vierlings-Flak in Stellung. Die Leute meinten, das sei nicht gut für uns. Sollte die Flakstellung angegriffen werden, trifft es uns mit. Als feindliche Flugzeuge uns überflogen, schossen sie ein paar Mal, dann zogen sie wieder ab.
Auch die nächste Woche verlief zunächst ruhig. Aber am Donnerstag (25.04.) tauchten plötzlich gegen Mittag knapp über dem Horizont am Hummelberg mehrere Tiefflieger auf und beschossen das Bahnbetriebswerk mit den dort stehenden Lokomotiven. Ich habe das beobachten können. Es war eine Sache von Sekunden. So schnell sie gekommen waren, waren sie auch wieder weg.
Am Donnerstagnachmittag und am Freitagvormittag konnte ich mit einigen Jungs von der Schneekoppe (Felsen oberhalb der ehemaligen Möbelfabrik) aus beobachten, wie Soldaten an der Elsterstraße die dicken alten Straßenbäume ansägten und Sprengladungen daran befestigten.

Am Freitag (26.04.) hörten wir zu Hause gegen 14 Uhr in südlicher Richtung eine gewaltige Detonation. Man hatte die Brücke über die Weiße Elster in der Nähe der Möbelfabrik (Verbindungsbrücke Jugelsburg – Elsterstraße) gesprengt. Danach erfolgten viele kleinere Detonationen: Es waren die Straßenbäume, die gesprengt wurden und nun als Baumsperre zu jeweils 10 bis 12 Bäumen quer über der Straße lagen. Weitere Baumsperren entstanden in Richtung Bad Elster kurz vor dem Landhaus, zwischen Landhaus und Mühlhausen sowie zwischen Landhaus und Arnsgrün. Auch in Jugelsburg am unteren Beginn der Hoflohe wurde eine Baumsperre angelegt. Adorf wurde zur Festung erklärt. Der Kampfkommandant namens Feierabend erließ den Befehl: „Jedes Haus, in dem eine weiße Flagge gehißt wird, wird abgebrannt. Alle männlichen Bewohner ab 14 Jahren werden erschossen.“
Gegen 17 Uhr hörte ich auch Richtung Bad Elser das typische Kettengeräusch von Panzern. Die Amerikaner rückten an. Ich kehrte schnell noch den Hof, denn ich dachte, die Amerikaner sollten von uns einen guten Eindruck haben. Aber die Panzer und sonstigen Fahrzeuge fuhren nur bis zum Landhaus. Dann hörte man eine Weile nichts. Wir stiegen den Berg hoch, um das Geschehen besser beobachten zu können. Und nach kurzer Zeit konnte ich US-Fahrzeuge auf der Straße nach Arnsgrün fahren sehen. Die Baumsperre im Wald, die nicht eingesehen werden konnte, wurde von den Amerikanern mit ihrer modernen Technik schnell weggeräumt. Nun war der Weg frei, um auf der Höhe im Wald Stellung zu beziehen.

Gegen 17.30 Uhr schlugen auf einmal Granaten am westlichen Stadtrand oberhalb des Schützenhauses ein, und schon brannten einige der dort befindlichen Holzscheunen lichterloh. Mein Bruder Dieter (damals 11 Jahre alt) machte sich mit einigen anderen Jungs auf den Weg zu den Scheunen, um sich das anzuschauen. Sie verkannten die Gefahr, in die sie sich begaben. Denn kurze Zeit später schlug eine Serie von Granaten einige hundert Meter östlich davon ein, und unsere Jungs waren noch nicht zurück. Wir waren überglücklich, als mein Bruder wieder wohlbehalten zu Hause ankam.
Aber schon gegen 18 Uhr kam der nächste Angriff. Diesmal schlugen mehrere Serien Granaten zwischen unseren Häusern und der Eisenbahnlinie in Großkopfs Feld ein, ca. 20 m von den Häusern entfernt. Zum Teil waren es Granaten mit Brandsätzen, die unsere Häuser in Brand setzen sollten. Sie brannten noch eine ganze Weile. Es waren jeweils Serien von 16 Granaten, die im Abstand von etwa 2 m einschlugen. Meine Tante befand sich in der Wohnküche, als die Granaten einschlugen und Granatsplitter bei ihr sämtliche Fensterscheiben zerstörten. Wie durch ein Wunder ist ihr nichts geschehen. Das Haus meines Vaters trug keinen nennenswerten Schaden davon.
In den folgenden Tagen schossen die Amerikaner Tag und Nacht auf Adorf und Jugelsburg. Dabei hatten sie annähernd feste Schießzeiten: 8 bis 12 Uhr, 14 bis 18 Uhr und ab 20 Uhr bis 6 Uhr morgens. In den Zwischenzeiten überflog uns immer ein Aufklärungsflugzeug, um zu sehen, inwieweit die Geschosse ihr Ziel erreicht hatten.

Als ich vom Volkssturm zurückkehrte, baute ich mit meinen Brüdern einen Bunker auf unserem Garten. Wir hoben ein quadratisches Loch mit etwa 1,8 m Länge und Breite sowie 1,80 m Tiefe aus, bedeckten es mit ausrangierten Eisenbahnschwellen, die mein Vater liegen hatte, und legten eine schwarze Plane darüber, damit kein Regen eindringen konnte. Innen befanden sich an der Wand entlang Bänke. Der Eingang war im rechten Winkel, damit keine Splitter eindringen konnten.

In den ersten Tagen des Beschusses saßen wir mit unseren Hausbewohnern in diesem Bunker, wenn geschossen wurde. Als dann aber am Dienstag, dem 1 Mai, etwa 7 m  von unsrem Bunker entfernt auf dem benachbarten Garten meiner Tante eine Granate einschlug und einen 2 m breiten Krater erzeugte, bekamen wir Angst und meinten, daß wir im Keller unsres Hauses sicherer sind. So saßen wir von nun ab im Keller. Ich hatte schließlich auch die Vermutung, daß die Amerikaner unseren Bunker entdeckt haben könnten und glaubten, er wird von Volkssturmleuten benutzt. Denn einmal pfiffen MG-Geschosse ganz nahe an mir vorbei. Im Keller hörte man die Abschüsse und Einschläge der Granaten viel lauter als im Bunker. Es dröhnte oft das ganze Haus.

In den Feuerpausen wurde versucht, schnell etwas zu kochen oder sich mit den Nachbarn auszutauschen. Dabei erfuhr man, welche Häuser im Dorf Treffer erhielten, abbrannten und wer dabei ums Leben gekommen ist. Die Nachrichten verbreiteten sich von Haus zu Haus. Das Haus von Knüpfer gleich neben dem Bäcker erhielt einen Volltreffer, die Granate schlug durch bis zum Keller, und alle sechs Bewohner waren sofort tot, darunter eine Schulkameradin von mir. Das Haus meiner Schulkameradin Anneliese Bergmann, das Bauerngehöft Wunderlich, das Haus von Riedel sowie das Haus oberhalb Spengler brannten ab. Die Häuser von Adolf Stengel und Oskar Wendel erhielten schwere Treffer und wurden unbewohnbar. Der Dorfbäcker Erich Dölling buk während der gesamten Beschußzeit, als ringsum die Granaten einschlugen, weiterhin Brot, damit die Menschen etwas zu essen hatten.

Wir hatten längst keinen elektrischen Strom mehr, damit auch keinen Radioempfang. Im Keller saßen wir bei Kerzenlicht dicht beieinander. Ich registrierte, daß vom Abschuß der Granate bis zum Einschlag 18 Sekunden vergehen. So zählte ich die abgeschossenen Granaten und erwartete mit Angst und Bangen 18 Sekunden später die Einschläge in der Hoffnung, daß sie uns nicht treffen. Nach dem Abschuß wußte man nicht, ob man 18 Sekunden später noch lebt oder das Haus noch steht. Vor allem, als die Einschläge nachts zeitweise immer wieder näher kamen, erlebten wir angstvolle Stunden. In dieser Zeit verband uns alle eine große Hilfsbereitschaft. Alte Zwiste und Streitigkeiten waren vergessen. Not verbindet!
In der Stadt brannte neben anderen Gebäuden seit dem 1. Mai die Spinnerei und Weberei Gebr. Uebel. Dichte dunkle Rauchschwaden überzogen die Stadt. U. A. brannten in der Straße Sand zwei Häuser ab, darunter die Gaststätte „Garküche“. Das Postgebäude, die Gaststätte „Wolfsschlucht“ auf dem Markt waren von Granaten getroffen, und es gab Tote.

Am Sonnabend, dem 5. Mai, schlug eine Granate auf unserem Garten ein, genau dort, wi ein kleiner Apfelbaum stand. Den Baum hat es sofort entwurzelt und etwa 8 m weggeschleudert. Die Granatsplitter durchschlugen unser Dach, die Tür zur Wohnküche und die Fensterscheiben.
Inzwischen konnten wir beobachten, wie immer mehr Menschen in den Geschoßpausen nach Bad Elster flüchteten. So beschlossen auch wir, am Sonnabend (5. Mai) gegen Mittag zusammen mit meiner Tante nach Bad Elster zu fliehen. Wir packten die nötigsten Sachen in Taschen und Koffer und liefen los. Indem wir über die Betonbrocken der gesprengten Brücke über die Elster nahe der Möbelfabrik kletterten, erreichten wir die Elsterstraße und liefen in Richtung Landhaus.
Nach etwa 200m sahen wir an der Baumsperre die ersten amerikanischen Soldaten. Sie waren gerade dabei, den Kaninchenstall einer der dortigen Häuser zu plündern. Mit Mühe überkletterten wir die dicken Baumstämme. Nach etwa 300 m befand sich vor dem Landhaus die zweite Baumsperre. Wir beobachteten, wie amerikanische Soldaten alten Frauen halfen, über die Stämme zu klettern und wie ein amerikanischer Soldat einer Frau eine Armbanduhr wegnahm.

Wir liefen weiter bis zum „Gasthof Elstertal“. Im Gasthof befanden sich bereits viele Flüchtlinge aus Adorf und wir gesellten uns dazu. Die Nacht verbrachten wir auf Stroh, und die ganze Nacht hindurch wurde auf Adorf geschossen. Uns beschäftigte die bange Fragen: Wird unser Haus noch stehen?
Am kommenden Tag beschlossen wir, noch einmal nach Jugelsburg zurück zu gehen, um weitere Sachen zu holen. Schließlich mußte man damit rechnen, dass das Haus abbrennt. Das Geschützfeuer hatte nachgelassen, und so durchquerten wir die Front und erreichten ohne Probleme unser Haus. Wir waren erleichtert, dass es durch den Beschuß am Nachmittag und in der Nacht nicht getroffen war. Schnell packten wir die wichtigsten Dinge auf einen Handwagen, banden ein weißes Betttuch darüber und fuhren los Richtung Möbelfabrik. Während des Packens hörte ich unablässig MG-Feuer. An der Elsterstraße, bei uns gegenüber, brannte eine Scheune. Einmal hörte ich Geschosse um mich pfeifen.

Als wir etwa 200 m von unserem Haus entfernt waren, entdeckte ich auf dem Hang westlich der Weißen Elster sechs amerikanische Panzer. Wir waren schockiert. Was sollten wir machen? Hinlegen, in Deckung gehen? Es wäre für die Amerikaner ein Leichtes gewesen uns abzuschießen. Wir beschlossen, im nächsten Haus Schutz zu suchen. Aber es war verschlossen, ebenso das nächste und übernächste. Schließlich fanden wir bei Ella Neudel Unterschlupf. Nach etwa 2 Stunden hörte die Schießerei auf, und man sah amerikanische Jeeps und andere Fahrzeuge auf den Straßen fahren. Damit war Adorf durch die Amerikaner eingenommen, für Adorf war der Krieg zu Ende. Alle Manschen waren überglücklich, daß der Beschuß nun vorbei war. Und alle schworen sich, alles zu tun, damit so etwas nicht wieder eintreten kann. Wir gingen noch am gleichen Nachmittag zum „Elstertal“, um unsere verbliebenen Sachen abzuholen. Bei Remtengrün und im Ortsteil Vogelherd wurde jedoch noch weiter gekämpft.

In den folgenden Tagen führen Kolonnen von Fahrzeugen, Jeeps, Panzerspähwagen, Mannschaftswagen u. a. an unserem Haus vorbei, und amerikanische Soldaten gingen von Haus zu Haus. Aber sie waren freundlich. Vorher hatten wir noch alle HJ-Uniformen verbrannt. In einem Befehl wurden alle Einwohner aufgefordert, sämtliche vorhandenen Waffen abzuliefern. Bei Nichtbefolgen drohte die Todesstrafe. Mein Vater hatte in Luftgewehr. War es nun eine Waffe in diesem Sinne, die abgeliefert werden mußte? Man wußte nicht, wie die Amerikaner reagieren, falls sie so etwas finden. Um uns nicht der Gefahr auszusetzen, wickelte ich das Luftgewehr sorgfältig mehrmals in wasserundurchlässiges Ölpapier und ging damit eines Abends, als es niemand sah, in die sogenannte Lohe, einer hügeligen Fläche mit Wiesen, Feldern und Berghängen. Dort vergrub ich es in der Nähe eines Strauchs mit der Absicht, es wieder heim zu holen, wenn sich die Lage entspannt hat. Aber als wir nach einigen Wochen danach suchten, war es nicht mehr zu finden. Mein Vater war traurig, als er das nach seiner Heimkehr erfuhr.

In den Räumen der Neuen Schule wohnten die Amerikaner. Im Hof bauten sie ihre Verpflegungsstation auf. Dort wurde gekocht und gegessen. Übrig gebliebenes Essen wurde an Kinder abgegeben, daneben auch Schokolade, Kaugummi, Trockenfrüchte, Gebäck sowie komplette Verpflegungspäckchen, wie sie die amerikanischen Soldaten erhalten. Das hatte sich sehr schnell herumgesprochen. Überall, wo sich Amerikaner aufhielten, waren auch immer Kinder, die hofften, etwas von ihnen zu bekommen. Nach Jahren der Entbehrung habe ich in diesen Wochen so viel Schokolade gegessen, daß ich Probleme mit dem Stuhlgang bekam.

Insgesamt kamen durch den Beschuss in Adorf und Jugelsburg etwa 120 Einwohner ums Leben, davon 10 aus Jugelsburg. Am Dienstag (12. Mai) sah ich von unserem Fenster aus, wie Bauer Markert die Toten aus Jugelsburg auf offenem Leiterwagen zum Friedhof nach Adorf fuhr. Ein großer Teil der Baumwollspinnerei und –weberei Gebr. Uebel sowie mehrere Häuser waren abgebrannt oder wurden schwer beschädigt und an vielen Häusern sah man die Spuren von Granatsplittern.
Nun galt es, Baumsperren und Schutt wegzuräumen. Alle Männer sollten mithelfen. Aber ehe Eisenbahnen und Busse wieder fuhren, dauerte es noch Wochen. Die Leute hofften, die Lebenssituation wird nun schnell wieder besser. Auch wir hatten das starke Gefühl: Ein neues Leben beginnt. – Eine gewisse Aufbruchstimmung überkam uns. Wir schmiedeten Pläne und gute Vorsätze.