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Als die Amerikaner Arnsgrün besetzten - Bericht von Manfred Romboy über die Jahre 1944/45 in Arnsgrün

Unsere Familie wurde am 4. Dezember 1943 beim ersten großen Angriff auf die Reichsmessestadt Leipzig ausgebombt. Knapp dem Tode entronnen, irrte meine Mutter (37) durch Sachsen und Thüringen. Dabei: vier Kinder – meine 15jährige Schwester Christa, mein 15jähriger Halbbruder Wolfgang, mein 5jähriger Bruder Dieter und ich, ein Siebenjähriger. Laut Abreisebescheinigung wurden wir am 9. Februar 1944 zwangsweise durch die Leipziger Behörden in das uns unbekannte Arnsgrün im Vogtland, Gasthaus „Zum weißen Rössl“, eingewiesen. In den Nachtstunden auf dem Bahnhof in Bad Elster angekommen, wurden wir nach langem Warten und zahllosen Telefonaten des Bahnhofvorstehers durch einen Krankenwagen abgeholt und nach Arnsgrün gefahren. Nach Meinung der Rössl-Wirtin Frau Hartenstein sollten wir Quartier im ungeheizten Tanzsaal nehmen und das in der Februarkälte 1944. Arnsgrüns Bürgermeister Wölfel konnte nichts gegen die Wirtin ausrichten; er musste die NSV-Behörde in Adorf mobilisieren. Dort wurde verfügt, dass die Bombenflüchtlinge die drei leeren Fremdenzimmer im ersten Stock des Hauses beziehen können. In diesen Räumen lebten wir bis Herbst 1945. Für uns, die Großstädter, war Arnsgrün ein Kulturschock. Ein Ort ohne fließendes Wasser und ohne Geschäfte. Alle Einkäufe, Brot, Milch, Kartoffeln, mussten, natürlich zu Fuß, im zwei Kilometer entfernten Adorf erledigt werden. Auch im Frühjahr 1945 unter Artilleriebeschuss. 

Wir waren die einzigen Bombenflüchtlinge, die dauerhaft in Arnsgrün verblieben. Bürgermeister Wölfel, der in Personalunion außer Landwirt noch Gastwirt und Briefträger war, brachte uns auch die Lebensmittelkarten. Die anderen Dorfbewohner galten als Selbst- oder Teilselbstversorger. Der Flüchtlinge ansichtig, sagten sie meist: „Wir ham fei selber nix“. Wir Kinder hielten das für den im Vogtland üblichen Gruß und erwiderten freundlich „Wir ham fei selber nix“. Die Bedeutung wurde uns erst später erklärt. Während meine 15jährige Schwester in den frühesten Morgenstunden zum Bahnhof Bad Elster laufen musste, um über Ölsnitz nach Plauen in die Oberschule gehen zu können, hatte ich es leichter. In Arnsgrün gab es ein altes Schulhaus mit einem Glockentürmchen. Dorfschullehrer Breuer unterrichtete alle Jahrgänge in einer Klasse. Mir ist von seinen Bemühungen um meine Bildung nur geblieben, dass ich weiß, dass der Heimatdichter Anton Günter in Gottesgab geboren ist. Während wir im Sommer 1944 das Lied vom Vogelbeerbaum übten, flogen in großer Höhe amerikanische Bomberverbände über das Schulhaus im Anflug auf die letzten noch unzerstörten deutschen Städte. Vom Himmel flatterten dann Hunderte schwarze und silbrige Stanniolstreifen, die wir einsammelten. Sie waren dafür bestimmt, das deutsche Radarnetz zu stören. Einmal wurde in den frühen Morgenstunden im Luftkampf über Arnsgrün eine solche fliegende Festung abgeschossen. Nach einem Fußmarsch von ein bis zwei Stunden fanden wir die Superfestung notgelandet in einem Waldstück. Die Besatzung saß tot im Cockpit. Die Polizisten vertrieben uns und andere Trophäenjäger.

Im Frühjahr 1945 erreichte der Krieg das verschlafene Arnsgrün. Mein 16jähriger Bruder Wolfgang wurde zur Wehrmacht einberufen. In den letzten Märztagen hasteten zahlreiche deutsche Soldaten aller Waffengattungen auf der Flucht aus dem Sudetenland durch den Ort. Am 3. (?) April rief mich meine Mutter ans Küchenfenster an der Rückseite des Weißen Rössls. Dort rollten drei oder vier amerikanische Panzer, begleitet von Infanteristen, langsam über die Viehweiden auf das Weiße Rössl zu. Vor ihnen flüchteten ohne Waffen mit erhobenen Händen einige deutsche Soldaten, die in einer Scheune übernachtet hatten. Sie wurden von den Amerikanern nicht beschossen. Ich sah später, wie sie unterhalb des Bauersberges vorläufig ins Spritzenhaus gesperrt wurden. Nun standen im und unterhalb des Dorfes zahlreiche Panzer mit dem weißen Stern am Turm. Jeeps und LKW mit der gleichen Kennzeichnung fuhren hin und her. Meine 16jährige Schwester, die einzig englisch Sprechende im Dorf, musste übersetzen, dass Radioapparate, Fotokameras, Ferngläser und Waffen unter Androhung der Todesstrafe bei Besitz umgehend im Bürgermeisteramt abzuliefern wären. Bürgermeister Wölfel und Ortsbauernführer Adler waren erstmals ohne Parteiabzeichen zu sehen. Unter den Kastanienbäumen auf dem Kiesboden des Rössl-Biergartens bauten die Amis ein Küchenzelt mit weißen Benzinherden auf. Schon am ersten Abend verzehrten die Soldaten ein Drei-Gänge-Menü: Suppe, Hauptgang mit Fleisch und zum Nachtisch Schokoladentorte. Ein Soldat hat mir sein Abendbrot geschenkt. Nun begriffen wir, wie arm Großdeutschland in Wirklichkeit war. 

Der Umgang mit den Amis war von Anfang an freundlich. Sie scherzten mit Frauen und Mädchen und mancher alte Bauer stand am Panzer und machte mit Händen und Füßen Konversation, um auch mal eine Lucky Strike zu rauchen. Wir Kinder schnorrten Bonbons und die uns zuerst unbekannten Kaugummis. Mein kleiner Bruder und ich posierten mit GI’s vor Panzern und Jeeps als „Nazi-Boys“ mit Hitlergruß für ihre Erinnerungsfotos. In Mutters Küche ließen sich die Soldaten die Ausgehhosen bügeln, denn in ihrer dienstfreien Zeit schlenderten sie, statt des Stahlhelms einen gleichlackierten Papphelm auf dem Kopf, durch das Dorf. Als einmal die deutsche Artillerie einige Schüsse in Richtung Arnsgrün abgab, flüchteten Zivilisten und Soldaten in den Waschküchenkeller des Rössls. Ein US-Soldat ließ Frauen und Kindern den Vortritt. In einem Baumwipfel explodierte ein deutsches Geschoss. Der Soldat war sofort tot. Ein Granatsplitter hatte in Kopfhöhe seinen Papphelm durchschlagen.  Tagelang lag der Tote hinter dem Haus, nur von einer Zeltplane bedeckt. Als er abgeholt wurde, fehlten sein Ehering und die Armbanduhr. Die Amerikaner vernahmen auch Dorfbewohner – ohne Resultat. Einen Tag und eine Nacht hatten wir Angst vor Repressalien. Zeltplane und Papphelm langen noch wochenlang hinter dem Haus. Die Zeltplane diente dann viele Jahre dem Kunze-Bauern am Heuwagen; ich hatte sie auf seinen Wunsch nach Kriegsende den Bauersberg hochgeschleift und ihm für zwei Reichsmark verkauft. Den Papphelm mit dem Todesloch habe ich Monate hinter einem Busch versteckt und immer wieder mit Schaudern angesehen. 

In unserem Schlafzimmer im ersten Stock des Rössls standen nun ein Scherenfernrohr und viele Telefone. Hier war die Feuerleitstelle der Amerikaner. Doch höchstens zwei- oder dreimal wurden wenige Salven, meist aus Granatwerfern, selten von Panzern, in Richtung Adorf abgegeben. Zwischen den fremden Soldaten in unserer Wohnung tollten mein Bruder und ich ungehindert umher, während Mutter in der Küche aus angelieferten Kartoffeln und Palmfett für unsere Hausbesetzer Pommes frites zubereitete. Ein Amerikaner deutete mehrmals auf uns Kinder und sagte: „Stalin-Soldaten!“. Er wusste, dass die Russen kommen – wir nicht. Aber mit Einbruch der Dunkelheit mussten wir – Deutsche durften nicht mit Amerikanern unter einem Dach schlafen – in Begleitung eines Bewachers mit geschultertem Gewehr zur Übernachtung in den Hof des Bauern Kunze gehen. In einer Nacht bildete sich infolge leichten Nebels ein Kreis in Regenbodenfarben um den Mond. Abergläubige Dorfbewohner erklärten das zum Himmelszeichen eines doch noch siegreichen Kriegsendes. Am nächsten Morgen schwor unsere Rössl-Wirtin Frau Hartenstein, dass der Regenbodenkreis um Mitternacht zu einem Kreuz verschmolzen wäre.
Eines Morgens waren die Amis weg. Obwohl wir in der Nacht Motorengeräusche hörten, wurden wir vom Abzug überrascht. Zurück blieben ein Haufen graugrüner Konservenbüchsen mit schwarzer Beschriftung und Kettenspuren auf den Dorfwiesen.  Die beschlagnahmten Radios standen zum großen Teil zur Rückgabe im Bürgermeisteramt. Ohne dass ein Mensch oder Haus zu Schaden kam, war für Anrsgrün der Zweite Weltkrieg zu Ende. Wir wurden Niemandsland.

In den Wäldern nach Bad Elster lagen nach dem 8. Mai Waffen aller Kaliber, die die flüchtige deutsche Wehrmacht zurückgelassen hatte. Ein Weg unterhalb des Waldbades war voll gestopft mit verlassenen Wehrmachtsfahrzeugen vom VW-Kübel- bis zum Panzerspähwagen. Alles unversehrt, aber mit leerem Tank. Wieselflink bauten Bauern und Handwerker Motoren und andere Teile aus. Mit meiner Mutter suchte ich zwischen Jugelsburg und Adorf an einzelnen Soldatengräbern und in einem Kriegsgefangenenlager erfolglos nach meinem 16jährigen Bruder, der zu den „Adorf-Verteidigern“ gehörte.

Ende Juni verdichtete sich das Gerücht, die Russen kommen, verbunden mit der Fama: „Wer eine rote Fahne raus hängt, wird nicht geplündert.“ Flugs trennten die Adorfer die auf rotes Fahnentuch aufgenähten Hakenkreuzspiegel ab und flaggten rot. Es ist mir erinnerlich, dass viele dieser Flaggen einen deutlichen roten Kreis in ihrer Mitte zeigten. Das Fahnentuch war unter dem Hakenkreuz nicht verblichen. In Arnsgrün hatte nur einer rot geflaggt – der Bewohner eines winzigen Hauses am Ende des Bauersberges. Er zeigte eine mit goldenem Hammer und Sichel bestickte rote Fahne, ein Altkommunist, der so seine Freude über die Sowjetsoldaten ausdrücken wollte. 

Irgendwann im Sommer fuhren mit flachen Panje-Wagen und struppigen kleinen Pferden blutjunge Soldaten der Roten Armee an userem Weißen Rössl vorbei, überall nach Schnaps und Kartoffeln bettelnd. Mehrmals erreichten Leiterwagen, darauf Menschen in blau-weiß gestreifter Kleidung, das Dorf. Sie führten kleine Flaggen mit sich, die sie als Franzosen, Holländer oder Luxemburger auswiesen. Sie zeigten Befehlsschreiben der Besatzungsmacht, die unsere Bauern verpflichteten, Gespanndienste bis zur nächsten Ortschaft zu leisten – KZ-Häftlinge aus dem Sudetenland auf dem Weg in ihre Heimatländer. Im ersten Befehl des russischen Stadtkommandanten von Adorf wurden alle Männer zwischen 16 und 60 aufgefordert, zu Wiederaufbauarbeiten an Straßen und Brücken im Vogtland bei der russischen Kommandatur anzutreten. Die wenigen, die dem Befehl Folge leisteten, wurden als Zwangsarbeiter in die Sowjetunion verschleppt. Ich wiß von einem Arnsgrüner, dessen Familie sich bei meiner Mutter ausweinte, dass ihr Angehöriger Jahre später aus einem Lager bei Leiningrad schrieb, dass es ihm „gut gehe“. Im Spätherbst 1945 verließ unsere Familie Arnsgrün. 1947 kam der Vater aus der Kriegsgefangenschaft. Auch der Bruder hatte den Krieg überlebt.



Im Herbst 1953 besuchte Manfred Romboy Arnsgrün noch einmal von Leipzig aus. Erich, der Sohn des Kunze-Bauers hatte den 2. Weltkrieg überlebt, war jedoch als Volkspolizeioffizier am 17. Juni 1953 irrtümlich von russischen Soldaten in Leipzig erschossen worden.

Der weitere Weg Manfred Romboys führte über Lehre und Verhaftung am 17. Juni 1953 trotzdem zur Kamera-Ausbildung ins DEFA-Studio nach Potsdam-Babelsberg. Nach seiner Flucht im Frühjahr 1960 wurde er Kameramann beim Fernsehen des Westdeutschen Rundfunks, filmte Adenauer, de Gaulle und Kennedy, lebte im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks von 1983-88 in Moskau, u.a. als Kameramann für Lutz Lehmann und Gerd Ruge. 1999 wurde er nach fast 40jähriger Tätigkeit für den WDR pensioniert und lebt bei Köln. Manfred Romboy war und ist auch noch als Filmhistoriker tätig. Der Bericht wurde niedergeschrieben im Jahr 2005.